Friedensaktivist: „In Westdeutschland kennt man nur das ideologische Konstrukt ‚Der Russe‘“

Kristian Golla arbeitet seit über drei Jahrzehnten in der Friedensbewegung und ist einer der Geschäftsführer des Netzwerks Friedenskooperative. Ein Interview.
Kristian Golla arbeitet seit über drei Jahrzehnten in der Friedensbewegung und ist einer der Geschäftsführer des Netzwerks Friedenskooperative. Im Gespräch erläutert er die heute veränderte Protest-Kultur von Kriegsgegnern, die Unterschiede in Ost- und West-Deutschland und warum Verhandlungen immer der bessere Weg sind.
Herr Golla, Sie sind schon sehr lange in der Friedensbewegung aktiv, seit den späten 1980er Jahren haben sie hier mitgewirkt und sind seit gut 30 Jahren im Netzwerk Friedenskooperative aktiv. Können Sie die erläutern, wie das Netzwerk Friedenskooperative, ein Service- und Informationsbüro für die Bewegung, das Kampagnen sowie Aktionen unterstützt und organisiert und das Magazin „Friedensforum“ herausgibt, entstanden ist?
Als ich nach meinem Studium der politischen Wissenschaften und des öffentlichen Rechts an der Uni Bonn angefangen habe, da hieß unsere Organisation nicht Netzwerk Friedenskooperative, sondern „Koordinierungsausschuss der Friedensbewegung”. Es war der Bonner Dachverband der westdeutschen Friedensbewegung. Ich sollte im Jahr 1988 eine Veranstaltung koordinieren, und aus dieser einen Veranstaltung sind dann schnell 30 Jahre geworden, und aus ‚Politik wissenschaftlich‘ ist ‚Politik praktisch‘ geworden. Das Netzwerk hatte damals zwei große Aufgaben, nämlich am damaligen Regierungssitz in Bonn, aktionsfähig zu sein und wenn möglich, über 100.000 Menschen in eine Demonstration zu organisieren. Denn in den 1980er und den 1990er Jahren hieß es immer, wenn man was zu sagen hatte, muss man einmal den Bonner Hofgarten füllen. Das habe ich in den 1990er Jahren zweimal geschafft.
Es wirkt, als würde es heute nicht die notwendigen Antikriegs-Proteste solcher Größenordnung geben, wie etwa in den 1980er Jahren nach dem Nato-Doppelbeschluss. Was hat sich verändert: die Menschen, die Zeiten, die Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten?
Heute gibt es ganz viele verschiedene Möglichkeiten, sich zu artikulieren, etwa Online-Petitionen. In Berlin funktioniert das natürlich auch weiter mit Demonstrationen. In Bonn wusste man aber: die Leute kommen von überall her, nur nicht aus der Stadt. Bonn hat nur 300.000 Einwohner. In Berlin mit seinen 3,7 Millionen Einwohnern ist das heute ein bisschen anders. In Bonn war der große Vorteil, dass man ungefähr wusste, wie viele Leute kommen, wenn sich die Busse und Züge angemeldet haben – das war in der alten Zeit, wo noch mit Fax gearbeitet wurde. In Berlin kann man heute mit derselben Arbeit einen sehr großen Erfolg machen. Oder man kann eben auch irgendwas organisieren, was niemand wahrnimmt, weil drei Meter weiter schon eine andere Kundgebung stattfindet. Das sind einfach andere Bedingungsfaktoren, es hat ebenso mit der Größe der Stadt, aber auch mit dem Kontext der letzten 30-40 Jahre zu tun, in denen sich viele Dinge geändert haben. Heute kann man Protest auch mit drei oder vier Millionen Unterschriften artikulieren.

Welche Aufgaben übernimmt dabei das Netzwerk? Ist es von sich aus aktiv, oder fungiert es vielmehr als Koordinierungsstelle?
Das Netzwerk Friedenskooperative hatte von Beginn an zwei Aufgaben: zum einen am Regierungssitz aktionsfähig zu sein, und zum zweiten Aktionen zu initiieren und zu koordinieren. Das kann man von überall her machen, da muss man nicht in Berlin sitzen. Das machen wir von hier in Bonn aus: Aktionen zu initiieren und zu koordinieren. Ein Beispiel sind die diesjährigen Ostermärsche, die ja traditionell regional und lokal organisiert, verantwortet und auch bezahlt werden. Wir bieten die bundesweite Klammer. Die Leute organisieren vor Ort eine Veranstaltung und wir zeigen in welchen 80-90 anderen Städten ebenfalls Veranstaltungen sind. Wenn jemand außerhalb der größeren Städte wohnt und nicht in diesen Kontakten drin ist, dann bedient man sich gerne der Übersicht vom Netzwerk Friedenskooperative. Wir sammeln aber auch Reden und Aufrufe, geben Material heraus, natürlich nicht nur zu Ostern, sondern auch, wenn es Aktionsschwerpunkte gibt, etwa zum Ukraine-Krieg.
Die Friedensbewegung erhielt in Deutschland in den 1980er Jahren mit dem Nato-Doppelbeschluss ganz starken Zulauf. Es ging um eine Aufrüstung mit Atomwaffen. Nun erleben wir heute erneut massive Aufrüstung. Bemerken Sie, dass sich durch den Kontext des Krieges in der Ukraine erneut ein größerer Teil der Menschen im Land dagegen formiert?
Die Friedensbewegung ist eine soziale Bewegung. Und soziale Bewegungen haben ganz allgemein zyklische Aufs und Abs. Natürlich kann man die 1980er Jahre, als Hunderttausende auf den Straßen waren, mit der heutigen Zeit vergleichen. Doch durch so einen Vergleich wird man der Sache nicht gerecht, weil sich die Gesellschaft in den letzten rund 30 Jahren verändert hat. Es gibt heute andere Protestformen, die es damals nicht gab. Heute kann man Vieles anders und einfacher machen. Ob jetzt Social Media nur ein Abbild dieser Veränderung oder auch ein Treiber ist, das sei einmal dahingestellt. Jedenfalls hat in den 1980er Jahren alles einfach wesentlich länger gedauert. Bei der Nato-Nachrüstung gab es einen zeitlichen Spannungsbogen von mehr als drei Jahren. 1979 sagte die Nato: Wir stationieren Raketen, wenn wir mit den Russen bis 1983 keine Einigung erzielt haben. Heute sind die Spannungsbögen 14 Tage oder eine Woche, manchmal noch nicht mal so lange. Es gibt zudem mehrere parallele Geschichten und Entwicklungen. In den 80er Jahren gab es ein Weltuntergangsszenario, nämlich den Atomtod. Die Frage lautete: Was ist, wenn alle auf den Knopf drücken? Damals konnte man die Welt mit den Atomwaffen vierfach vernichten, heute kann man sie mit den bestehenden Atomsprengköpfen, von denen das Gros bei den Russen und bei den Amerikanern ist, immer noch doppelt zerstören.
Die mögliche Atom-Apokalypse ist ja immer noch ein mögliches Szenario – warum mobilisiert es nicht wie damals? Zumal es im Kontext des Ukraine-Krieges wieder diskutiert wird, etwa im Kontext taktischer Atomwaffen?
Unter anderem deswegen, weil heute noch ein weiteres Weltuntergangsszenario dazugekommen ist – die Klimakatastrophe. Trotzdem gibt es natürlich Zulauf zu Friedensinitiativen. Wenn mir Journalisten sagen, dass es nun eine Bedrohung gibt und wir aufrüsten müssen, sage ich immer als Gegenbeispiel: Was sind denn die wirklichen Bedrohungen moderner Industriestaaten? Heute sind es in meinen Augen die Klimakatastrophe, Pandemien und der Rechtspopulismus. Gegen alle diese drei Dinge helfen keine Soldaten und hilft auch keine Aufrüstung. Vielmehr klaut uns das eigentlich nur die Mittel. Denn alles Geld, was wir jetzt in die Rüstung stecken, fehlt bei den anderen drei Bereichen. Das war in den 1980er Jahren anders, da gab es einen Fokus: die Nato-Nachrüstung, weil die „bösen” Sowjets uns angeblich angreifen wollten. Jetzt haben wir den Vorteil, dass wir aus der Geschichte wissen, dass das vielleicht doch ein bisschen anders war, als es in den 1980er Jahren verkauft wurde. Wir wissen, dass die Sowjetunion und die Staaten des Warschauer Paktes genauso viel Angst vor dem Westen hatten wie umgekehrt, und dass das Bedrohungsszenario eher nur Zuschreibung war. Bei den erwähnten drei Punkten, die ich heute als dringend sehe, geht es um internationale Kooperation, weil wir die wichtigsten Probleme für diese Welt nur gemeinsam lösen können und nicht gegeneinander. Im Augenblick ist diese notwendige Kooperation allerdings sehr schwer denkbar.
Es ist nachvollziehbar, dass sich heute durch die Vielfalt kontroverser und dringender Themen die Protestformen und Schwerpunkte verändert haben. Doch hat der Ukraine-Krieg insgesamt wieder mehr Menschen zu Protest und Widerstand bewegt?
Ich würde sagen, es gibt zwei verschiedene paar Schuhe. Der eine ist: Was denkt die Bevölkerung? Und der andere: Was tun die Menschen, oder was tun sie eben nicht? Auch in den 1980er Jahren war natürlich nicht die ganze Welt oder die ganze Bundesrepublik friedensbewegt. Es war aber das umfassende Thema, und jeder bezog sich darauf. Selbst Helmut Kohl hat den Spruch „Frieden schaffen ohne Waffen” umgemünzt, in „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen”. Frieden war also der Bezugspunkt. Ich glaube, dass es immer noch genug Leute gibt, die die heutigen Entwicklungen kritisch sehen. Doch nicht alle Menschen wollen das sofort in Protest ummünzen. Es gibt eine gesunde Skepsis gegenüber Rüstung, gegenüber militärischen Lösungen, oder auch vermeintlich militärischen Lösungen, weil es ja eigentlich nicht ums Militärische geht. Es wirkt wie ein Déja vu: ‚Die Russen wollen uns jetzt wieder besetzen‘, was natürlich eine halbgare Bedrohungsanalyse ist. Ich will das nicht geringschätzen, denn das, was Putin macht, ist in meinen Augen imperialistisches Handeln – ein fremdes Land zu besetzen, und andere, das Baltikum oder Polen, zu bedrohen. In Deutschland haben wir als Täternation eine gesunde Skepsis. Wir haben zwei große Kriege „losgetreten”, die ein großes Unheil über die halbe Welt gebracht haben, und da ist es klar, dass es Menschen gibt, die fragen, ob es nicht andere Wege bei der Konfliklösung gibt.
Sowohl Polen als auch Deutschland sind in dieser Hinsicht wohl Sonderfälle. Weiter westlich sehen die Perspektiven anders aus?
Das Thema wird in Frankreich und England ganz anders bearbeitet. Dort gibt es diese gesunde Skepsis militärischen Lösungen gegenüber nicht, und auch das hat was mit der Geschichte dieser Länder zu tun. Um auf Deutschland zurückzukommen: Wenn man Leute, die zu Hause auf dem Sofa sitzen, in Meinungsumfragen fragt, wie ihre Position dazu ist, gibt es natürlich gute Antworten. Aber die selben Menschen gehen dafür nicht gleich auf die Straße. Viele sagen, sie seien dagegen, und äußern, dass das, was uns die Politik anbietet, eher eine hilflose Reaktion ist, um zu sagen, dass Aufrüstung das Gebot der Stunde sei. Viele sind überzeugt, dass die Staaten mehr miteinander ins Gespräch kommen müssen, und dass es eher darum geht, Formen der kollektiven Sicherheit anzustreben. Es geht also darum, einen Austausch mit Russland zu führen. Dieser Krieg kommt nicht aus dem luftleeren Raum, auch wenn völlig eindeutig ist, wer diesen Krieg losgetreten hat. Trotzdem ist es die Frage, ob man diesen Konflikt militärisch lösen kann? Wahrscheinlich nein, weil es kein militärischer, sondern ein politischer Konflikt ist. Und diesen kann man entsprechend nur politisch lösen, nämlich zuvorderst durch Gespräch und Verhandlung.
Solche Forderungen nach zu viel Gesprächs- und Kompromissbereitschaft werden in Deutschland mitunter als Appeasement oder Putin-Verstehertum diskreditiert. Erfahren Sie das auch im Netzwerk, stoßen Sie wegen Ihrer Positionen auf massive Kritik?
Auch in den 1980er Jahren versuchte die Politik – Helmut Kohl etwa, und auch die SPD, die am Nato-Doppelbeschluss mitgearbeitet hat – die Friedensbewegung zu „diskreditieren”. Ich würde nicht sagen, dass es mehr oder weniger war. Dabei ist heute völlig eindeutig, dass die Zuschreibung ‚Putin-Versteher‘ ein eher untaugliches Mittel dafür ist. Es ist doch klar, dass, wenn man Verhandlungen führen will, der Gegenüber nicht der Freund ist und es entsprechend schwer wird. Dieser Konflikt ist militärisch nicht zu lösen, und dennoch dominiert das Narrativ: Wir müssen aufrüsten. Wenn wir darauf blicken, wie vergangene Kriege geendet sind, gab es sehr sehr oft Verhandlungen erst hinter den Kulissen, bei denen man sich abseits der Öffentlichkeit auf Dinge geeinigt hat, die man dann noch mal bei offiziellen Verhandlungen auf den Tisch gelegt hat. Ich hoffe sehr stark, dass das auch im Augenblick so passiert.

Sind die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, die nun in der Türkei stattfanden, da ein richtiger Schritt gewesen – auch in dem reduzierten Format?
Unabhängig davon, was ich von der Verfasstheit der Türkei oder politisch von Recep Erdoğan halte, ist es ein gutes Zeichen, dass er Räume anbietet, wo man sich austauschen kann. Dasselbe gilt auch für Saudi-Arabien, das natürlich keine Demokratie im westlichen Sinne ist, wie ich und wohl auch die meisten Menschen sie gut finden würden. Trotzdem werden da Gesprächsräume eröffnet. Auch ist es erst einmal egal, was man von Donald Trump hält. Denn auf jeden Fall ist mit ihm Bewegung ins Spiel gekommen, er tat, mit welchen Hintergedanken auch immer, was andere Politiker in den letzten drei Jahren nicht getan haben. Und das ist eigentlich der Weg, den wir weiter beschreiten müssen. Denn in den letzten drei Jahren sind Hunderttausende Menschen zu Tode gekommen, Zivilisten und Soldaten, welche Uniform sie auch immer angehabt haben.
Wenn wir über die letzten drei Jahre sprechen: Wie bewerten Sie denn die Politik der Bundesregierung von Olaf Scholz bezüglich dieses Krieges? Hätte sie nicht anders, kriegsvermeidend, agieren können?
Wie viele andere Menschen konnte ich mir Anfang 2022 nicht vorstellen, dass Russland den Krieg beginnen, dass Putin so offensiv gegen seine eigenen Interessen handeln, dass er Verhandlungsangebote verwerfen würde. Und dass er einen Landkrieg führen könnte in einem Land, wo es funktionierende Atomkraftwerke gibt, die, sollten sie getroffen werden, auch Russland in Mitleidenschaft ziehen würden. Alles dieses wollte oder konnte ich mir nicht vorstellen. Jetzt zu sagen, was die Bundesregierung vor drei Jahren falsch gemacht hat, das kann ich nicht, das wäre eine kontrafaktische Diskussion. Wenn erst einmal der erste Schuss gefallen ist, ist es immer sehr schwierig, das zurückzudrehen.
War es aber nicht vielmehr so, dass der Westen kurz vor Ausbruch des Krieges nicht verhandeln wollte und am Nato-Beitritt der Ukraine festhielt, dem Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy noch 2008 widersprachen, halbherzig, aber immerhin?
Jetzt diskutieren wir große politische Räume. Ich bin da ein bisschen bescheidener. Ich habe zwar meine Meinung dazu, aber natürlich keinerlei Einflussmöglichkeiten in diesem Bereich. Insofern ist das jetzt sehr wohlfeil zu sagen: „hätte, hätte, hätte ...”. Wie ich sagte, ist dieser Konflikt nicht im luftleeren Raum entstanden, das ist halt stets die sehr kurze Zusammenfassung für die ganzen Dinge, die vorher passiert sind. Ich glaube, es geht bei dem Konflikt um knallharten Machtpoker, das ist so manchmal in internationalen Beziehungen. Dass ein souveräner Staat, Russland, einem anderen souveränen Staat, der Ukraine, verwehrt, Mitglied der Nato zu werden, das geht eigentlich nicht. Trotzdem kann man das emotional verstehen. Als Angela Merkel damals ihre Bedenken äußerte, schwang bei ihr ja auch ein bestimmter biografischer Kontext mit. Sie ist in der DDR aufgewachsen und kannte Russen. Die Wahrnehmung der Russen in der DDR war oder ist nicht immer positiv, aber man hat dort auch die Menschen persönlich kennengelernt. Im Westen kannte man nur das ideologische Konstrukt des Russen oder der Sowjetunion. Auch der Schriftsteller Heinrich Böll etwa hat das anders wahrgenommen, eben weil er mit Schriftstellerkollegen aus Russland im Austausch stand. Auch Wladimir Putin hat einen besonderen biografischen Hintergrund, mit seiner Prägung durch die Arbeit bei den Geheimdiensten, wo alles funktioniert, nur sicher kein Vertrauen. Es ist für ihn daher eine noch größere Leistung, auf Vertrauen und Kooperation zu setzen. Er ist, wie er ist, und trotzdem müssen wir mit ihm ins Geschäft kommen, und das heißt: verhandeln, weil verhandeln immer die bessere Lösung ist. Wenn es wirklich stimmt, dass es bestimmte amerikanische Stimmen gibt, die sagen oder sagten: ‚Wir kämpfen jetzt die Russen nieder und rüsten sie durch den Krieg ab‘, bin ich immer noch Pazifist genug, um zu sagen, dass über drei Jahre lang Menschen zu Tode kommen. Das ist es alles nicht wert. Es gibt aber bestimmte Leute, die es anders sehen.
Gibt es durch den Machtantritt von Donald Trump, der mehr als umstritten ist, nun eine reale Perspektive, dass der Krieg jetzt und auch dauerhaft beendet werden kann?
Wir beide sitzen nicht am Verhandlungstisch und müssen keine Lösung finden. Der Job der Friedensbewegung ist es, darauf aufmerksam zu machen, dass Verhandlungen wichtig sind und dass man an zusammenkommen muss. Diejenigen, die an dem Tisch sitzen, die Ukraine und Russland, müssen eine Lösung finden, die sie beide akzeptieren können, wie auch immer diese aussehen mag. Ich kann auf die Friedens- und Konfliktforschung und die Geschichte verweisen, die zeigen, dass gerechter Frieden und gerechte Vorschläge besser funktionieren und nachhaltiger sind. Russland und die Ukraine müssen eine Lösung finden, die sie beide auch den eigenen Leuten vermitteln können. Putin hat nun über drei Jahre lang wenig erreicht. Ich bin jetzt kein Slawist, ich kann kein Russisch. Aber Leute, die Russland besser kennen als ich, sagen, dass es eine breite Unzufriedenheit in der dortigen Gesellschaft gibt, die aber aufgrund der autoritären Strukturen nicht artikuliert wird und nicht durchdringt.
Wir haben uns auf den Ukraine-Krieg konzentriert. Ich würde gerne auch erfahren, wie Aktive und Organisationen des Netzwerks mit dem Krieg im Gaza-Streifen umgehen. Zuletzt startete Israel eine erneute Offensive, zuvor wurde bereits eine verheerende Total-Blockade verhängt. Gerade in Deutschland als Täternation im Holocaust fällt es vielen schwer, Kritik an Israel zu üben. Wie ist es im Netzwerk Friedenskooperative?
Ich glaube, man muss es trennen: die deutsche Vergangenheit ist das eine, darüber kann man sehr lange sprechen. Doch die israelische Gegenwart ist etwas anderes. Wenn man versucht, als Deutscher Beides in Einklang zu bringen, funktioniert es nicht. Die israelische Gegenwart in Gaza ist ein maximales Desaster, da wird sich an nichts gehalten. Jede Art von Regulatorien, von Völkerrecht wird dort mit Füßen getreten. Entweder von der Hamas, alle Juden ins Meer zu treiben, oder von rechtsradikalen Israelis, alle Palästinenser ins Meer zu treiben – das kann nicht funktionieren. Es kann nur über Kooperation gehen, weil die Menschen schlicht da sind und es auch schon genug Ansätze gab, das zu lösen. Dorthin müssen wir wieder zurückfinden. Die Hamas nimmt ihre eigene Bevölkerung in Geiselhaft, und der israelischen Armee ist das völlig egal, sie hält da einfach drauf mit der Begründung, unter den Krankenhäusern habe die Hamas ihre Kommandozentralen. Wahrscheinlich sind die das auch und ich weiß nicht, was schlimmer ist – einfach ein Krankenhaus als Schutzschild zu benutzen oder eben das alles zu ignorieren und das Krankenhaus zu bombardieren. Die Lage im Gaza-Streifen und in Israel ist noch festgefahrener als bei der Ukraine und Russland, aber es gibt zur Zeit wenig Alternative zur Koexistenz.

Das ist eine Perspektive, die in Deutschland mitunter nicht zugelassen wird, wenn ich etwa an die von Politik und Medien als antisemitisch diskreditierten propalästinensischen Proteste denke, oder auch an Einreiseverbote für Leute wie Yannis Varoufakis. Erfahren Menschen und Organisationen Ihres Netzwerkes ebenfalls Widerstand, wenn sie sich in dieser Frage engagieren?
Es wird natürlich auch instrumentalisiert, dass jeder, der sich gegen die israelische Politik ausspricht, antisemitisch sei. Das ist eine Lesart, die von der israelischen Regierung gerne benutzt wird. Jeder, der gegen uns ist – erst recht aus Deutschland – ist demnach Antisemit. Es gibt gleichwohl auch Personen, die sich in Deutschland missverständlich ausdrücken. Deshalb habe ich versucht, zu trennen, was deutsche Vergangenheit ist, und was im Augenblick die israelische Gegenwart ist. Wenn man das beides zusammen diskutiert, kann das nur schiefgehen. Es wird der Begriff Genozid benutzt für die Geschehnisse in Gaza. Diesen Begriff würde ich als Deutscher nicht benutzen wollen, weil er in meinen Augen das, was im Zweiten Weltkrieg passiert ist, entwertet. Das möchte ich nicht. Es ist menschenverachtend, was im Gaza-Streifen passiert, aber es gibt noch einen deutlichen Unterschied zu dem, wie die Nazis in Polen oder in halb Europa gemordet haben. Ich kann aber verstehen, dass Menschen mit arabischen Wurzeln von Völkermord sprechen. Und wenn man das in Ägypten, in Jordanien oder in Syrien oder wo auch immer sagt, wird das anders gelesen, als wenn man das in Deutschland sagt.
Spiegelt sich die Perspektive, die Sie darstellen, auch in Positionen der Mehrheit der Mitglieder Ihres Netzwerks wider, und generell, der Teilnehmenden an Friedensinitiativen?
Ja und nein. Die Friedensbewegung fordert generell eine differenzierte Wahrnehmung von Problemlagen, keine schwarz-weiße, nach dem Prinzip: die bösen Russen, die bösen Israelis. Es geht um Lösungen und es geht darum, dass ganz gleich, welche Lösungen man dann findet, beide Seiten dies akzeptieren müssen. Es geht stets erstmal darum, das Schießen zu beenden. Und das ist schon ein weiter Weg, dies zu erreichen. Der nächste Weg, nämlich miteinander ins Gespräch zu kommen, die Konflikt-Nachsorge also, ist der eigentlich noch viel schwierigere Weg und erfordert noch viel mehr Arbeit, damit mit dem Ende eines Krieges oder des Konfliktes nicht gleich der nächste programmiert wird.
Sie versuchen als Netzwerk ja, soweit ich sehe, ihren Teil dazu beizutragen, das Bewusstsein ob dieser Realitäten zu schärfen. Welche Ereignisse stehen in diesem Jahr im Fokus Ihrer Arbeit, jenseits von Russland, der Ukraine und Israel? Im August 2025 jährt sich der Atombombenabwurf von Hiroshima und Nagasaki zum achtzigsten Mal. Es war ein Verbrechen gegen die Menschheit, das aber in den USA bis heute ganz anders gelesen wird, nämlich dass der Krieg gegen Japan auf einen Schlag beendet wurde. Die amerikanische Gesellschaft braucht noch Zeit, um beides zu erkennen, dass es eben auch ein großes Menschheitsverbrechen war. Aber wir wissen ja aus Deutschland, dass es etwas länger dauert, dass eine Nation sich negativen, dunklen Punkten der eigenen Vergangenheit stellt. In Deutschland betraf das die Nazi-Vergangenheit, deren Aufarbeitung mit den Frankfurter Auschwitz-Prozessen und der Bewegung von 1968 in Gang gesetzt wurde. Es war wichtig, dass das thematisiert wurde, und genauso gut ist es jetzt mit den USA oder in anderen Ländern, wo Kriegsverbrechen geschahen oder geschehen.
Herr Golla, vielen Dank für das Gespräch.
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Berliner-zeitung